Vertreter*innen des Vorstandes der DIG AG Gießen sowie Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft haben an den Gedenkfeiern in Gießen und Wetzlar teilgenommen. Bei der Gedenkstunde in Wetzlar hat Vorstandsmitglied Nicolas Obitz einen Redebeitrag gehalten.

„Verneigen wir uns in Demut vor den vertriebenen, umgebrachten, verschollenen Bürgern aus unserer
Stadt – Mit dem innigen Wunsch und der Hoffnung, dass es immer wieder Menschen geben möge, die wenn ein unmittelbares Erinnern auch nicht mehr möglich, doch das Andenken an die Wetzlarer jüdischen Familien bewahren, und pflegen werden.“


Die Worte, die Sie gerade hörten, stammen nicht von mir. Sie bildeten den Abschluss der Ansprache von Frau Doris Ebertz vor genau sieben Jahren, am 09.11.2015, hier an dieser Stelle. Aber Frau Ebertz hielt nicht nur über viele Jahre die Ansprachen an den Gedenktagen, Sie hat viel mehr bewegt! Zunächst an der Seite ihres Mannes Walter. Gemeinsam mit ihm und später alleine, engagierte sie sich für das Stadtbild, die Denkmalpflege und für die städtischen Museen. Ihr Wetzlar lag ihr am Herzen, seine Menschen und deren Schicksale, vor allem aberdas der Juden. Das Ehepaar begann 1979, den Kontakt zu ehemaligen jüdischen Bürgern Wetzlars zu suchen und zu festigen. Später kümmerte sich Doris Ebertz um
die Dokumentation über die jüdischen Bürger in Wetzlar, veröffentlichte das Gedenkbuch über die
jüdischen Familien, und ohne die Initiativen des Ehepaars Ebertz, hätten wir heute weder das Mahnmal
im Rosengärtchen, noch den Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof an der Bergstraße, und noch nicht
mal dieses Schild, würde hier hinter mir hängen. Frau Ebertz verstarb am 24.06.2022 im Alter von 86
Jahren.

Ich gedenke heute nicht nur den Millionen von Opfern, die unter der Schreckensherrschaft der
Nationalsozialisten ihr Leben lassen mussten, sondern auch den Menschen, die Ihr Leben der Aufarbeitung und, wenn man es so nennen mag, der „Wiedergutmachung“ widmeten, und heute nicht mehr unter uns sind. Menschen wie Doris Ebertz.

Das jüdische Leben ist mehr in die Öffentlichkeit gerückt. Viele Veranstaltungen haben den Diskurs aufleben lassen. Das allgemeine Interesse am jüdischen Leben ist gestiegen. Das Alles ist super, aber wichtig ist doch das was daraus folgt! Lassen Sie uns also anschauen, was seit meiner letzten
Rede passiert ist:

Eine pro palästinensische Demonstration wird in Frankfurt genehmigt, die Gegendemonstration aber
untersagt, da man das Gewaltpotential für zu hoch hält. Jüdischen Frankfurterinnen und Frankfurtern
wird empfohlen sich am Tag der Demonstration nicht erkennbar jüdisch oder pro israelisch in der Stadt zu
bewegen, da man sonst nicht für deren Sicherheit garantieren könne. Die Documenta wird zur antisemitischen Propaganda-Schau schlechthin und als Belohnung dafür
bekommen die Kuratoren eine Gastprofessur. Abbas relativiert in Berlin zunächst unwidersprochen
den Holocaust vor dem Bundeskanzler. Van Goghs Sonnenblume wird von Klimaaktivisten mit Tomatensoße beworfen. Das war zwar nicht antisemitisch motiviert, aber vergessen Sie nie: Es gab schon einmal eine Zeit, in der Kunst beschmiert wurde!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Kein noch so gutes Anliegen rechtfertigt die Beschädigung von
zivilisatorischem und kulturellem Welterbe. Wer das tut, steht in einer finsteren Tradition des fanatischen
Bildersturms und ist gefährlicher Gegner einer aufgeklärten und pluralistischen Gesellschaft. Von dem Steinwurf auf die Synagoge in Hannover an Yom Kippur, oder die beinahe wöchentlich stattfindenden Angriffe auf Kippah-Träger und Trägerinnen (ja, auch das gibt es), möchte ich gar nicht
erst anfangen. Aber wir müssen gar nicht nach Frankfurt, Hannover Kassel, Berlin, oder gar London schauen. Ein Blick auf den Alltag von Jüdinnen und Juden in unserer Stadt
und drum herum reicht schon vollkommen aus:

11 Drohbriefe und zwei beschmierte Ausgaben der jüdischen Allgemeinen, sind die traurige Bilanz meines Briefkastens in den letzten 365 Tagen. Für Studierende gab es darüber hinaus mehrere Pflichtklausuren während der hohen jüdischen Feiertage an unseren Hochschulen und Universitäten. Bitte bedenken Sie hierbei, dass das Judentum die einzige Religion ist, in der an den Feiertagen ein dogmatisches Schreibverbot besteht. Oder haben Sie schon mal Ihre private Geburtstagsfeier mit ein paar Ihnen lieb gewordenen Menschen bei der Polizei anmelden und genehmigen lassen müssen? Oder fährt die Polizei an hohen christlichen Feiertagen regelmäßig vor Ihrem Haus Streife um zu schauen, ob
bei Ihnen noch alles gut ist? Für Jüdinnen und Juden hier, ist das leider oft traurige Realität – Das ist Deutschland im Jahr 2022! Sehr geehrte Damen und Herren, verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ein Blick zurück ist gerade an einem Datum wie dem heutigen richtig und wichtig. Die Vergangenheit können Sie aber nicht mehr verändern. Die Gegenwart und Zukunft hingegen schon. Betroffene Reden an zwei Tagen im Jahr und ein immer währendes nie wieder, werden uns also auf Dauer nicht weiterbringen. Was zählt sind Ihre Handlungen – und daran werden wir Sie messen!


Ich begann meine Rede mit dem Zitat von Doris Ebertz, welches ihren innigen Wunsch und die Hoffnung
enthielt, dass es immer wieder Menschen geben möge, die wenn ein unmittelbares Erinnern auch nicht mehr möglich, doch das Andenken an die Wetzlarer jüdischen Familien bewahren, und pflegen werden.
Und damit möchte ich Sie auch beenden. Ich wünsche mir nämlich – und damit bin ich nicht alleine – dass
unsere Initiative, welche die Sichtbarmachung des jüdischen Lebens in unserer Stadt und das Andenken
an eine Bürgerin, die dieses zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht hat, auch von städtischer Seite aus auf breite Unterstützung trifft und hoffe, dass ich nicht zu voreilig handle, wenn ich allen entscheidenden Personen schon jetzt dafür danke. Hoffnung heißt auf hebräisch Hatikvah. Hatikvah wird auch die Nationalhymne des Staates Israel genannt. Eine Passage dieser Hymne lautet:
כל עוד בלבב פנימה
נפש יהודי הומיה
ולפאתי מזרח קדימה
עין לציון צופיה
עוד לא אבדה תקותנו
Übersetzt heißt das:
Solange noch im Herzen,
eine jüdische Seele wohnt,
und nach Osten hin vorwärts,
ein Auge nach Zion blickt,
so lange ist unsere Hoffnung nicht verloren.


Ich danke Ihnen dass Sie mir zugehört haben. G´tt schütze unsere Stadt, Am Yisrael Chai!